Biotensegrität und Faszienwissen des 21. Jahrhunderts
“We are self-emerging.”, meint John Sharkey. John ist klinischer Anatom aus Irland und hat anfangs September den Faszienworkshop zusammen mit Joanne Avison, Bill und Gabriela Scholl (Trager Schule Schweiz) am Kientalerhof unterrichtet. Das Dojo des Kientalerhofes ist voll, über vierzig Therapeuten lauschen gespannt, was Joanne und John über die Welt der Faszien zu berichten haben.
Adaption, Bewegung und Körperhaltung
John ist ausgesprochen unterhaltsam. Wir lachen Tränen, als er am letzten Kurstag beschreibt, wie er in den Siebzigern in den Staaten mit Schnauz, Unisuit und Stulpen Aerobic tanzt. Schlussendlich geht es immer um Bewegung, egal wie. Wichtig: Bewegung soll Spass machen und abwechslungsreich sein. Unsere Strukturen passen sich unmittelbar, fortlaufend und ein Leben lang den Aufgaben an, die an sie herangetragen werden. Wenn wir stundenlang mit rundem Rücken und vorgeschobenem Kinn vor dem Computer sitzen, wird der Körperbau sofort versuchen, sich anzupassen. Faszien werden verdickt und Muskeln angespannt, um das Gewicht des Kopfes in dieser Position besser zu halten.
Ein neues Anatomie - Vokabular
“Wir brauchen ein neues Vokabular.”, sagt John. Das Wort “Dehnen” will er streichen. Wer will schon Dehnungsstreifen? Durch Dehnen erreichen wir einen irreparablen Verlust der Anpassungsfähigkeit des Bindegewebes. Genau das ist aber essenziell, wenn wir den Körperbau anhand des Biotensegritätsmodells betrachten, welches auf dem Kräfteverhältnis und dem Gleichgewicht von Kompression und Spannung beruht. Der Meniskus des Knies als “shock absorber”? Nein, bloss nicht, wohl eher Abstandshalter. Und wo bitte seht ihr die 70% Wasser im Körper? Alles Flüssige, ausser Urin und etwas Magensaft, liegt in gebundener, kolloidaler Form vor. Ach ja, und das Iliotibialband...gibt es vielleicht nur in den Anatomiebüchern, welche auf der anatomischen Sichtweise des 14. Jahrhunderts beruhen.
Der Körper als Flüssigkristall
Joanne unterrichtet Anatomie, ist Buchautorin (Yoga, Fascia, Anatomy and Movement) und Yogafrau durch und durch. Der Körperbau des Menschen, überhaupt aller Lebewesen, ist für sie heilige Anatomie. Wenn sie therapeutisch arbeitet, tut sie das mit grossem Respekt. Auf die Frage, ob es den Schmerz braucht, um Faszientherapie effektiv anzuwenden, wird sie sehr emotional. Für sie ist es klar: Körperarbeit, fasziale Techniken miteingeschlossen, müssen nicht schmerzhaft sein. Die Antwort des Körpers auf Schmerz ist eine schützende Kontraktion und eine Verhärtung aller Strukturen. Unsere Natur ist flüssigkristallin. Auf eine schnelle und starke Verformung durch Kräfte von aussen wird sich das Gewebe verdichten.
Deep Bodywork, subtile Energie und Esalen Massage
Tiefe Bindegewebsarbeit in Kombination mit subtiler Energie - eine Woche später stehe ich wieder im lichtdurchfluteten halbrunden Raum des Dojos. Perry Holloman, Esalen Massage Lehrer und Begründer von Deep Bodywork, unterrichtet seinen ersten Deep Bodywork Kurs im Seminarhaus des Kientalerhofes. Wir werden an diesen Tagen das Zusammenspiel von feiner subtiler Energie in Kombination mit Tiefen Bindegewebstechniken und den Langen Streichbewegungen der Esalen Massage erforschen. Alles, was ich ein paar Tage zuvor über Biotensegrität und Faszien gelernt habe, findet hier seine Fortsetzung und Integration in die praktische Arbeit. Die verschiedenen Puzzleteile fügen sich nahtlos zusammen.
Selbstheilung durch Bewusstwerdung
Perry erzählt uns von seiner Zusammenarbeit mit Harriet Goslins. Harriet ist Körpertherapeutin und die Begründerin der Cortical Field Reeducation. Sie hat in den Anfangszeiten des Esalen Institutes bei Dick Price und Moshe Feldenkrais gelernt. Mit kleinen, feinen Bewegungen weckt sie das Körperbewusstsein auf allen Ebenen. Erst durch dieses veränderte Bewusstsein ist das Auflösen von gehaltenen Mustern, die Schmerzen verursachen, möglich. Als Perry ihr eine Deep Bodywork Sitzung gab, meinte sie: “Eigentlich tun wir dasselbe.” Ob mit achtsam ausgeführter, langsamer und tiefer Bindegewebsarbeit, mit feinen Bewegungen oder stillen Techniken, immer möchten wir die Aufmerksamkeit des Körpers auf sich selber lenken, um damit Bewusstsein und Selbstheilungskräfte zu fördern. Denn, wir sind nicht zur “self-emerging”, sondern auch “self-healing”, selbstheilend.
Die eigene Präsenz als kostbarer Schatz
Perry ist meisterhaft darin, einen Raum aufzubauen, in dem Lernen leicht und spielerisch wird. Immer wieder, ob in der Meditation, dem Yoga, der Movement Practice oder der Massagearbeit selbst - es dreht sich alles um Präsenz und der Ausdruck davon in irgendeiner Art und Weise.
“Your preciousness is your presence.” - “Dein kostbares Sein ist deine Präsenz.”, meint Perry am Ende unserer Abschlussmovement.
Wir verlassen alle tief genährt und inspiriert den Kientalerhof und hoffen auf eine baldige Fortsetzung der Deep Bodywork und Esalen Massage Kurse.
Spürbares Echo
Tage später stehe ich mit nackten Füssen auf dem mit Tau benetzten Rasen und lehne mich in die sanfte Morgenbrise. Es ist mir, als würde der Wind leicht flüsternd um, in und durch mich wehen. Ich fühle mich wunderbar durchlässig, frei und doch tief verankert in meiner Mitte und mit Mutter Erde. So soll es sein. Deutlich spüre ich das Echo der letzten beiden Wochenenden. Es ist, als hätten sich wieder neue Welten aufgetan. Das, was ich im Alltag und als Therapeutin unter meinen Händen spüre, hat einen vertieften und breiteren Kontext erhalten. Vernetzt, eben. So macht Weiterbildung Spass!
Esalen Massage Ausbildung: Start im Februar 2020
Es freut mich, dass die Esalen Massage an diesem wunderbaren Ort im Berner Oberland eine Bleibe gefunden hat. Am kommenden Wochenende findet der Einführungskurs Esalen Massage für Paare statt und im Februar startet die erste 200h Ausbildung. Weitere Informationen zur Ausbildung und Einführungskurses findest du hier: