Unser Nervensystem verfügt über die erstaunliche Hardware, langsame Streichbewegungen von warmen Händen über die Haut als entspannend und wohlig zu empfinden. Die Langen Streichbewegungen, die Long Strokes der Esalen Massage liefern die entsprechende Software dazu.
In Kommunikation mit dem Aussen und Innen
Wir empfangen Reize von aussen und innen über viele verschiedene Arten von Sinneszellen, die in unterschiedlichen Geweben und Tiefen zu finden sind. In der Tiefe der Muskulatur sind es die Muskelspindeln, die dicht von Nervenfasern umschlungen sind und unserem Gehirn mitteilen, wie stark einzelne Muskelgruppen angespannt sind. An den Übergängen von Muskeln zu Sehnen liegen die Golgi-Sehnenorgane, die Auskunft über Dehnung und Kontraktion des jeweiligen Muskels liefern. Rund um die Gelenkkapseln eingebettet liegen die Gelenksensoren, die Informationen über deren Stellung im Raum liefern. Wie und wo wir uns im Raum befinden, wohin uns unsere Bewegung mit wie viel Kraft hinführt - das sind die Informationen dieser in der Tiefe liegenden Rezeptoren. Dieser Sinn wird auch als Tiefensensibilität oder Propriozeption bezeichnet. Für die Berührungsreize von aussen sind die Mechanorezeptoren zuständig.
Spüren und Tun: die Mechanorezeptoren
Tastsensible Mechanorezeptoren der Haut registrieren mechanische Veränderungen. Zu dieser Gruppe gehören die Meissner Körperchen, die Merkel Zellen, die Ruffini und Pacini Körperchen - all diese winzig munzig kleinen Strukturen, die nach ihrem Entdecker benannt wurden und spezifisch Vibrationen und Druckveränderungen erfassen. Werden sie aktiv, schicken sie ihre Information als elektrischen Impuls über schnell leitende Nervenfasern Richtung Zentralnervensystem zum somatosensorischen Kortex. In diesem Teil der Grosshirnrinde nehmen wir all das, was von der Aussenwelt über unsere Haut an uns herangetragen wird, bewusst und schnell wahr.
Gleich neben dem somatosensorischen Kortex liegt der motorische Kortex. Sollte auf Grund dessen, was wir erspüren, eine Bewegung notwendig oder gewünscht sein, so ist es der motorische Kortex, der diese Bewegung plant und ausführt. Spüren und die muskuläre Antwort darauf liegt anatomisch und zeitlich ganz nahe beieinander. Diese schnellen Nervenfasern der Mechanorezeptoren und die Anordnung im ZNS helfen uns, rasch auf die Wahrnehmungen über die Haut zu reagieren. Mit dieser Hardware sind wir in Kontakt mit der Aussenwelt. Wie fühlt sich das samtene Blatt einer Rose oder die raue Rinde der alten Eiche unter unseren Fingerspitzen an? Wie das weiche Moos unter unseren Füssen? Hier auf der unbehaarten Haut von Handflächen und Fusssohlen sind diese tastsensiblen Mechanorezeptoren in besonders hoher Dichte vorhanden und lassen uns Oberflächenbeschaffenheit und Kontur fein und genau erspüren.
Die Neuroanatomie des Long Strokes
Aber wir haben nicht nur einen Tastsinn, sondern auch einen “Fühlsinn”, wo das Gefühlte mit einer emotionalen Qualität verknüpft wird. Denn es gibt noch eine weitere Gruppe von Rezeptoren, deren freie Nervenendigungen unsere Haut fein durchweben und deren Empfindung im Gehirn emotional eingefärbt wird: die C-Nervenfasern. In diese Gruppe gehören Fasern, die entweder Temperaturunterschiede registrieren, Schmerzen weiterleiten oder, für uns Esalen Massage Practitioner besonders interessant, taktile Berührungsreize empfangen. Erst in den 90iger Jahren wurden die auf angenehme Berührung spezialisierte C-taktilen Nervenfasern entdeckt. Dies hatte zur Folge, dass die Haut nicht nur in ihren anatomischen und physiologischen Besonderheiten erforscht wird, sondern auch als soziales Organ zunehmend in diesem jungen Forschungszweig an Bedeutung gewinnt.
Fühlen: die C-taktilen Nervenfasern
Leichte und angenehme Berührungsreize mit warmen Händen, wie wir sie im Long Stroke der Esalen Massage ausführen, registriert unsere Haut über die C-taktilen Nervenfasern (auch ct-Fasern oder CT-Afferenzen genannt). Durch ihren speziellen Aufbau leiten diese Fasern Reize langsamer an das zentrale Nervensystem weiter. Sie unterscheiden sich nicht nur in der Geschwindigkeit von den anderen Mechanorezeptoren, sondern schlagen auch einen anderen Pfad ein als die restlichen Familienmitglieder. Sie wandern in die Tiefe des Gehirns, in die Insula Rinde. Dies ist jener Bereich, der unsere Emotionen und unsere physiologischen Regulationsmechanismen regelt. Hier werden nicht nur langsame Streichungen, sondern auch Signale aus dem Körperinneren und körperliche Veränderungen verarbeitet. Dieser Vorgang wird als Interozeption, als Innenwahrnehmung bezeichnet. Werden wir uns dieser Signale bewusst gewahr, so sind diese Prozesse an ein Gefühl geknüpft.
Affektive Berührung
Im richtigen Kontext ausgeführt sind die ct-Fasern am aktivsten, wenn mit einer Geschwindigkeit von 0.1-10 cm/s und einem leichten Druck über die Haut gestrichen wird. Auch die Wärme der Hände ist ein wichtiger Faktor, denn mit einer handwarmen streichenden Bewegung sind diese niederschwelligen ct-Fasern noch kommunikativer. Dann lösen sie ein Gefühl des Wohlbefindens aus, weshalb diese Art der Berührung auch als affektive Berührung oder als gefühlsbetonte Berührung bezeichnet wird.
Interessant ist auch die Verteilung der C-taktilen Fasern: sie scheinen in besonders hoher Dichte am Rücken und rund um die Schultern vorhanden zu sein, finden sich aber weit weniger häufig an den Handflächen und Fusssohlen.
Es macht also Sinn, sich zu umarmen und sich gegenseitig über den Rücken zu streichen. Denn die Aktivierung dieser Nerven löst eine erstaunliche Palette von verschiedenen positiven Wirkungen aus:
• hat einen positiven affektiven Wert (löst Wohlbefinden aus)
• stärkt die Widerstandskraft gegenüber akutem und chronischem Stress
• verringert die physiologische Erregung (beruhigender Effekt)
• hemmt die Reaktion auf schmerzhafte Reize
• fördert die soziale Kommunikation und die sozialen Bindungen
• zeigt eine antidepressive Wirkung
C-taktile Nervenfasern und Oxytocin
Diese Effekte decken sich mit den Hauptwirkungen von Oxytocin. Oxytocin ist ein Hormon mit vielen unterschiedlichen Wirkungen und wird oft auch als Kuschelhormon und als Bindungshormon bezeichnet. Es wird deshalb vermutet, dass die Stimulation der ct-Fasern die Ausschüttung von Oxytocin fördert.
Die 60iger damals und die Wissenschaft heute
Als die Esalen Massage in den 60iger Jahren in Kalifornien am Esalen Institut entstand, wurde sie von einer Frau ganz besonders beeinflusst: Charlotte Selver, die Begründerin von Sensory Awareness. Charlotte war Gymnastiklehrerin und lernte bei Elsa Gindler und Heinrich Jacoby, einem Schweizer Musikpädagogen. 1938 emigrierte sie in die Staaten, wo sie ihre Arbeit als Bewegungs-Medizinfrau weiterentwickelte: das meditative Spüren und Erleben des eigenen Körpers in Bezug zu sich selber und der Umwelt über die Erfahrung der Sinne. Sie war überzeugt, dass dies die gesunden, organischen Regulationsmechanismen fördern und unterstützen würde.
Ab 1963 war sie oft zu Gast in Esalen und gab Workshops. Unter ihren Schülern befanden sich auch viele der Esalen Massage Practitioner, die unten auf dem Massagedeck, bei den heissen Bädern über dem Ozean, die Gäste massierten. Inspiriert von der ewigen Wellenbewegung des Wassers und den Lehren von Charlotte Selver entstand hier eine Massageform, die sich an den sensorischen Empfindungen und den Langen Streichbewegungen über die Haut orientierte. Es war offensichtlich, dass gerade diese langsamen Long Strokes über den ganzen Körper tief nährend und entspannend wirkten.
30 Jahre später, in den 90igern, entwickelte eine Forschungsgruppe rund um den Neurowissenschaftler Vallbo in Schweden eine neue Untersuchungsmethode, die Mikroneurographie, die feine Nervenimpulse über die Haut untersuchte. Dies führte zur Entdeckung der C-taktilen Nervenfasern, die bis anhin so im menschlichen Körper nicht bekannt waren. Inzwischen wurden Untersuchungsmethoden verfeinert und neue kamen hinzu. Wissenschaftler wie Francis Mc Glone in Liverpool, Håkan Olausson und Johan Wessberg in Göteburg forschen mit ihren Teams intensiv weiter. Wer heute Publikationen zu affektiver Berührung und CT-Afferenzen sucht, wird auf dem Portal PubMed, eine online Bibliothek, rasch fündig. Es scheint, als seien gerade in den letzten 10 Jahren eine Unmenge Artikel zu diesem Thema publiziert worden.
An invitation to explore
Die positiven Wirkungen des Long Strokes sind inzwischen gut belegt und wir sind gespannt auf weitere Forschungsarbeiten. An invitiation to explore – eine Einladung zum Erforschen, das ist eines der Anliegen des Esalen Institutes. Denn tatsächlich gibt es in vielerlei Hinsicht noch viel zu erforschen.
Wie kommt es, dass sich die massierte Körperhälfte in der Wahrnehmung so grundlegend von der nicht berührten Körperhälfte unterscheidet? Welche Rolle spielt die Drucktiefe im Zusammenspiel mit dem Long Stroke? Gibt es überhaupt so etwas wie «muskuläre Verspannung», was verspannt sich denn da und was löst sich? Wie erklärt sich der Zusammenhang zwischen dem «Gefühl der Sicherheit, des Geborgenseins» und den physiologischen Regulationsmechanismen? Warum sind Präsenz und Co-Regulation im therapeutischen Kontext und im Alltag so wichtig?
Es bleibt hochspannend. Wir massieren weiter und orientieren uns dabei an den Körperempfindungen und an dem, was uns gut tut. Bestimmt wird es dazu eine wissenschaftliche Erklärung geben. In der Zwischenzeit lassen wir unsere warmen Hände wie Wasser und Welle fliessen und erfreuen uns auch immer wieder an den Momenten der Magie und des Nichtwissens. Beides darf sein.
Wer sich gerne auf Entdeckungsreise begeben möchte und die Wirkung der Langen Streichbewegung hautnah erleben möchte – Esalen Massage wird in der Schweiz am Kientalerhof unterrichtet:
Weitere Infos: https://www.kientalerhof.ch/method/esalen-massage/
Esalen Massage Kurse und Ausbildungen weltweit: https://massage.esalen.org/